Abschiedsvorlesung, gehalten am 5. Mai 2009 im Audimax der Universität St. Gallen
Es macht den Anschein, dass wir derzeit den Kulminationspunkt einer zu weit getriebenen moralischen Enthemmung und institutionellen Entfesselung wirt-schaftlichen Vorteilsstrebens erleben. Die Erschütterung des "Vertrauens" in das bestehende Wirtschaftssystem durch die aktuelle Finanz- und Wirtschafts-krise ist gross. Jetzt möchte jedermann "Teil der Lösung, nicht des Problems" sein. Aber wir können gar nicht wissen, was der Kern des Problems ist, bevor wir unseren Orientierungshorizont sinnvollen und legitimen Wirtschaftens ge-klärt haben. Geht es um weniger "Gier" (individuelle Selbstbegrenzung), um mehr Regulierung (Systemsteuerung) oder um neue Leitideen des gesellschaft-lichen Fortschritts? Was kann eine integrative wirtschaftsethische Perspektive beitragen zum Verständnis der Zusammenhänge und zur Gewinnung von trag-fähigen Grundsätzen vernünftigen Wirtschaftens?
Skizziert wird ein tour d'horizon zur aktuellen politisch-ökonomischen Problem-lage in fünf Schritten - von den Indizien einer epochalen Herausforderung (1) und ihrem real- und ideengeschichtlichen Kontext (2) zur Ausleuchtung der normativen Tiefenstrukturen der bisherigen verbreiteten Marktgläubigkeit (3), zum Entwurf des sie überwindenden Fortschrittshorizonts einer buchstäblich "zivilisierten" Marktwirtschaft (4) und schliesslich zur sich daraus ergebenden "wirtschaftsbürgerlichen" Bildungsaufgabe und ihren systematischen Konse-quenzen für die Wirtschaftswissenschaften (5).
Die entfesselte Marktwirtschaft hat keine sinngebende lebenspraktische und gesellschaftliche Fortschrittsorientierung mehr. Ihre Dynamk ist "eigensinnig" - und das heisst: lebenspraktisch zunehmend unsinnig - geworden. Die herrschende Wirtschaftsdoktrin verbirgt ihre Ratlosigkeit hinter dem Generalrezept "mehr vom Bisherigen", also: mehr Wettbewerb, mehr Markt, mehr Rationalisierung, mehr Wirtschaftswachstum ... Als lebenspraktischer Preis müssen angeblich ein immer hektischerer Arbeitsstil, die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer und der Sozialabbau in Kauf genommen werden. In dieser Situation ist Ideologiekritik die grundlegende und wichtigste Aufgabe von Wirtschaftsethik. Von da aus öffnen sich neue Perspektiven eines sinnvollen und sozialverträglichen ökonomischen Fortschritts. Das neue Motto lautet: "Ziviliserung" der Marktwirtschaft, d.h. ihre Einbettung in eine voll entfaltete Bürgergesellschaft! Der sehr leicht lesbare Artikel skizziert diese Perspektive auf nationaler und globaler Ebene.