Brühwiler, Claudia Franziska: "We're all mad here"? - Im Wunderland der US-Konservativen. Antrittsvorlesung. Universität St. Gallen, 18 December 2018.

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Aus der Einleitung:

Ich nehme Sie sogleich mit nach Amerika, in die Stadt, deren Wolkenkratzer auch für Ayn Rand der Inbegriff amerikanischen Pioniergeists und Unternehmertums war: New York.
Am 29. April 1932 legte dort der Ozeandampfer Berengaria an, der als Reparationszahlung von deutschen in britische Hände gewechselt und nach dem ersten Weltkrieg zahlreiche Emigranten in ihre neue Heimat befördert hatte. Mit an Bord war in jenem Frühling eine Alice Hargreaves, die im Mai an der Columbia University geehrt werden sollte. Mrs Hargreaves – die sich gerne, wenn auch ungerechtfertigt, mit «Lady» ansprechen liess – erhielt einen Ehrentitel, aber nicht etwa für eigene Leistungen. Vielmehr sollte sie dafür ausgezeichnet werden, siebzig Jahre früher einen Oxford-Dozenten für Mathematik zu einem der berühmtesten Kinderbücher der Weltliteratur inspiriert zu haben: Charles Dodgson, uns allen bekannt als Lewis Carroll, widmete der damals zehnjährigen die Geschichte ihrer Namensvetterin «in Wonderland», im Wunderland.
Die amerikanische Presse der Zeit bejubelte ihren Besuch und beschwor angesichts der realen Alice jene im fiktiven Spiegel herauf. So schrieb ein Journalist, Lady Hargreaves habe während eines Empfangs gemeint: «Curiouser and curiouser» – «Merk- und merkerwürdig!» Die Dame liess sich zeitweise ein auf den Tanz zwischen Fakt und Fiktion, liess zu, dass ihre Präsenz stets im Schatten ihres fiktiven Alter Egos stand. So meinte sie in einer Radiosendung, mit der Reise nach Amerika sei sie in ihr eigenes Wunderland zurückgekehrt.
Amerika, ein Wunderland?
Fürwahr hatte die einst so neue Welt für Europäer stets eine Faszination, die sich in zahlreichen Auswandererbiografien niederschlug. Aus kindlichem Gwunder wurde indessen nicht immer erwachsene Bewunderung, sondern immer wieder auch Verwunderung – und gerade heute scheint diese Spielform des Wunderns unsere Gefühle zu dominieren. Wie die fiktive Alice scheinen wir vorgeblich vernünftigen Europäer in der Auseinandersetzung mit Amerikas Gegenwart, insbesondere der politischen Gegenwart, in jenes verwunschene Kaninchenloch zu stürzen, an dessen Ende wir schliesslich in einer verrückten Teegesellschaft landen.
«We’re all mad here» – «Wir alle hier sind verrückt.» Was die Cheshire-Katze, die nach Gutdünken auftaucht und alsbald wieder verschwindet, über Lewis Carrolls Wunderland sagt, scheint für viele von uns auf die USA zuzutreffen. Zumindest für dessen konservativen Teil. Aber dürfen wir so einfach urteilen? Denn die Cheshire-Katze fügt an: «Ich bin verrückt. Du bist verrückt.»
Aber immer der Reihe nach. Oder wie der König gegen Ende von Alices erstem Abenteuer meint: «Begin at the beginning, … and go on till you come to the end: then stop» – «Fang mit dem Anfang an … und geh weiter bis zum Schluss: dann hör auf.»

Date

2018

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