Ethique des affaires

Aporien des Verzeihens

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Können Verbrechen gegen die Menschlichkeit verziehen werden – oder sind sie unverjährbar, unverzeihbar? Daran zeigt sich bereits eine der Aporien des Verzeihens. Das Verzeihen ist ein Gegenstand des Rechts ebenso wie der Ethik. Kann generell das Unverzeihliche normativ festgeschrieben werden, oder ist es nicht vielmehr notwendig, das Verzeihen und das Unverzeihliche als strikt individuelle Kategorien zu betrachten, die sich jeglicher objektiven Regulierung entziehen? Kann das Unverjährbare als juristische Kategorie mit dem Unverzeihlichen gleichgesetzt werden? Neben den naheliegenden Autoren wie Jacques Derrida und Vladimir Jankélévitch, an die man gleich denkt, kommen hier auch eine Reihe anderer Denker wie Emmanuel Levinas, Paul Ricœur, Hermann Cohen, Walter Benjamin oder Rainer Maria Rilke ins Spiel.
Den Aporien des Verzeihens widmen sich im vorliegenden Band die Autoren Marc Crépon, Tobias Nikolaus Klass, Marc de Launay, Jean-Claude Monod, Birger Priddat, Verena Rauen, Rochelle Tobias und Frédéric Worms.

Zur Person
Marc Crépon ist Direktor des Département de Philosophie der Ecole Normale Supérieure, Paris.
Verena Rauen ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Kiel Center for Philosophy, Politics and Economics am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Details zum Buch
209 S., € 24,-
ISBN 3-85132-811-6 [lieferbar]

Verzeihen ohne Macht? Imagination am Rande der Souveränität

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Verzeihen ohne Macht? Imagination am Rande der Souveränität
(Verena Rauen)

„Ce dont je rêve, ce que j᾽essaie de penser comme la »pureté« d᾽un pardon digne de ce nom, ce serait un pardon sans pouvoir: inconditionnel mais sans souveraineté. La tâche la plus difficile, à la fois nécessaire et apparemment impossible, ce serait donc de dissocier inconditionalité et souveraineté. Le fera-t-on un jour? C᾽est pas demain la veille, comme on dit. Mais puisque l᾽hypothèse de cette tâche imprésentable s᾽annonce, fût-ce comme un songe pour la pensée, cette folie n᾽est peut-être pas si folle…“1

Ein Verzeihen ohne Macht – dies bedeutete ein Verzeihen, das nicht durch Konditionen wie etwa die Bitte oder die Buße determiniert wäre. Ein solches Verzeihen eröffnete kein Machtgefälle zu Gunsten desjenigen, der Verzeihung gewährt. Es bedeutete ein Entkommen aus dem Regress von Schuld und Vergeltung sowie einen Verzicht auf das moralische Urteil gegenüber dem Anderen, das dem Verzeihen im Sinne eines individuellen moralischen Aktes zu Grunde liegt und den Regress der Vergeltung nicht beendet, sondern unnötig perpetuiert. Ein solches Verzeihen ohne Macht bezeichnet Jacques Derrida im Interview Le siècle et le pardon (s.o.) als einen „Traum für das Denken“ (songe pour la pensée) und macht dabei auf das Paradox aufmerksam, das dem Akt des Verzeihens zu Grunde liegt: Indem das Verzeihen, im Sinne einer individuellen Handlung, immer ein moralisches Urteil über die Schuld des Anderen voraussetzt, bewirkt es eine Weiterführung der Kausalität der Schuldvergeltung. Wird also Verzeihung im Zuge eines performativen Sprechaktes oder auch nur durch eine Geste gewährt oder erbeten, bewirkt es nicht vorrangig einen Bruch mit der Logik der Vergeltung, sondern Machtausübung und ökonomischen Ausgleich. Deshalb fordert Maurice Blanchot den Verzicht auf das Verzeihen:
„Ne pardonne pas. Le pardon accuse avant de pardonner ; accusant, affirmant la faute, il la rend irrémissible, il porte le coup jusqu᾽à la culpabilité ; ainsi, tout devient irréparable, don et pardon cessant d᾽être possibles.“2
Die von Maurice Blanchot angedeutete Schwierigkeit der aktiven „Ausübung“ des Verzeihens wird auch von anderen Denkern des 20. Jahrhunderts thematisiert. So verbindet etwa Simone Weil, ihrerseits durch die Gnosis beeinflusst, in „Schwerkraft und Gnade“3 das Verzeihen mit dem ökonomisch berechenbaren „Gewicht“ menschlicher Handlungen, insofern diese das Gegengewicht des gerechten Ausgleichs erfordern, während die von der Verzeihung zu unterscheidende Gnade dieser Schwerkraft von Handlungen ausdrücklich entgegengesetzt ist. Auch Klaus-Michael Kodalle beschreibt eine Dimension des Verzeihens jenseits moralischer Handlungen.4 Die von ihm mit Bezug auf Hegel und Joseph Butler als „Geist der Verzeihung“ beschriebene Grundhaltung des Verzeihens wirkt sich entlastend auf zwischenmenschliche Beziehungen aus und bildet, gerade indem sie vor einer Überforderung des Individuums durch die Moral schützt, die „geheime Mitte der Ethik“.
Noch deutlicher als die oben genannten Denker zielt Derrida auf die Entbindung des Verzeihens von der souveränen Handlung, wenn er es als „Traum für das Denken“ beschreibt. Die von Jankélévitch eingeführte und von Derrida in seinen späteren Arbeiten aufgenommene Forderung nach einer „hyperbolischen Ethik“, auf die sich unter anderem Marc Crépon im hier vorliegenden Aufsatzband bezieht, bezeichnet folglich nicht ausschließlich die Entbindung des Verzeihens von seinen traditionellen Bedingungen im Rahmen der Dekonstruktion. Vielmehr werden durch den Begriff der hyperbolischen Ethik die Beschaffenheit des Verzeihens als einer individuellen Handlung sowie die adäquate Artikulationsmöglichkeit des Verzeihens durch die Sprache in Frage gestellt. Indem Derrida ein Verzeihen ohne Souveränität als „Traum für das Denken“ beschreibt, unterscheidet er es vom Bereich menschlicher Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten. Er bezieht es auf eine Struktur der Imagination, die jenseits der kontinuierlichen Antizipation dieser oder jener Ideale (wie sie beispielsweise durch Hermann Cohen gefordert wird 5) auf eine Ethik jenseits der Machtausübung abzielt.6 Kann das Verzeihen also durch die imaginative Struktur des Traums erfasst werden? Ein Ansatz, um diese Frage zu beantworten, findet sich in der phänomenologischen Kritik an der Psychoanalyse nach Ludwig Binswanger und Medard Boss.7 Es war jedoch insbesondere Michel Foucault in seiner Einleitung zu Binswangers Essay Traum und Existenz, der auf die ethische Dimension des Traums hingewiesen hat, indem er ihn als Ursprung der Imagination und höchste Figuration der Gnade erfasst.

1. Jacques Derrida, Le Siècle et le Pardon, in: ders., Foi et savoir, Paris 2001, S. 133. Deutsch: Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, in: Lettre International Nr. 48 (2000), S. 18.
2. Maurice Blanchot, L᾽Ecriture du Désastre, Paris 1980, S. 89.
3. Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1989. Orig.: La pesanteur et la grâce, Paris 1947.
4. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, München 2013, S. 9.
5. Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1966.
6. Vgl., Verena Rauen, Die Zeitlichkeit des Verzeihens. Zur Ethik der Urteilsenthaltung, München 2014.
7. Ludwig Binswanger, Traum und Existenz, eingel. v. Michel Foucault, übers. u. m. Nachw. v. Walter Seidler, Bern, Berlin 1992.

Ralf Schöppner: Das gute Leben und die Sinnlichkeit des Fremden. Zur Philosophie von Emmanuel Levinas

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Pascal Delhom and Alfred Hirsch (ed.): Emmanuel Levinas. Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische

Pardonner? Zum Verzeihen des Unverzeihlichen in der französisch-deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts

Sozioökonomie, Sozioökonomische Bildung und Wirtschaftsethik – Sozialwissenschaftliche Verbindungslinien: Eine Debatte

Post-truth Management and Responsibility in Business

Die Pathologie der gestundeten Zeit. Zur Öffnung komprimierter Zeiträume für ethische Entscheidungen

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„Zeit und Raum sind Arrangements des Bewußtseins mit seiner Enge, mit seinem Mißverhältnis zur Welt.“ (Blumenberg 1986: 88)

Einleitung

Zeit spielt eine tragende Rolle für ethische Entscheidungen. Ethische Entscheidungen zeichnen sich insbesondere durch ein Absehen sowohl von einer Logik der Schuldkausalität als auch von einem auf dem Prinzip des Ausgleichs von Schuld beruhenden Gerechtigkeitsbegriff aus. Doch welche Struktur von Zeit liegt ethischen Entscheidungen zu Grunde?
Grundsätzlich beziehen sich Entscheidungen auf Wahlmöglichkeiten, deren erwartete Konsequenzen – aus vergangenen Erfahrungen abgeleitet – auf die Zukunft projiziert werden. Die Zukunft eröffnet sich somit als ein Erwartungsfeld (Husserl 2006: 205) der antizipierten Konsequenzen unterschiedlicher Wahlmöglichkeiten. Wird eine Entscheidungssituation derart vorgestellt, spannt sich Zeit als ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen vergangenen Erfahrungen und der Projektion zukünftiger Konsequenzen in der Wahrnehmung des Subjekts auf. Der Ökonom Frank Knight weist darauf hin, dass die vom Subjekt auf der Grundlage vergangener Erfahrungen antizipierten Konsequenzen gegenwärtiger Entschei- dungen zugleich als zukünftige Ursachen dieser Entscheidungen angesehen werden können (Knight 1921: 201); dies ist ein Vorgang, der auch als Invertierung von Kausalität bezeichnet werden kann. Der Berechenbarkeit zukünftiger Handlungskonsequenzen auf der Grundlage vergangener Erfahrungen, wie sie beispielsweise auch im Rahmen der Theorie der rationalen Erwartung oder der Modellierung von Risiken angenommen wird, steht jedoch das bereits durch Knight hervorgehobene Problem der irreduziblen Ungewissheit gegenüber. Ungewissheit wird erstens durch die kognitiven Schwächen des Subjekts und die Komplexität von Informationen, insbesondere angesichts von Zeitknappheit, verursacht. Zweitens ist insbesondere für ethische Entscheidungen die Interaktion mit Anderen zu berücksichtigen, die, durch die Unberechenbarkeit des niemals gänzlich erschließbaren Erfahrungs- und Erwartungshorizonts des Anderen, irreduzible Ungewissheit im Hinblick auf die Konsequenzen des Zusammenwirkens vieler Individuen hervorruft.
Auf der Grundlage einer Kritik des rechnerischen Verständnisses von Zeit wird im Folgenden aufgezeigt werden, wie dieses nicht nur die Annahme einer Berechenbarkeit der Zukunft, sondern auch den strikten Vergangenheitsbezug eines auf Kausalität rekurrierenden Schuldbegriffs bestimmt. Die strukturelle Verbundenheit von Zeit und Schuld wird aus- gehend von einem Fragment des Anaximander und unter Bezugnahme auf Arbeiten Friedrich Nietzsches, Hermann Cohens und Walter Benjamins verdeutlicht. Demgegenüber wird anschließend die Bedeutung irreduzibler Ungewissheit und der ihr eigenen diskontinuierlichen Zeitstruktur für ethische Entscheidungen im Vordergrund stehen. Ethische Entscheidungen bewirken einen Bruch mit der kausalen Logik der Schuld; sie initiie- ren eine Diskontinuität im als Kontinuum erlebten Zeitbewusstsein des wahrnehmenden Subjekts und ermöglichen ethische, das heißt neue, nicht durch Schuldkausalität determinierte Handlungen. Durch die Offenheit für das Neue und das Absehen von einem ökonomischen Verständnis ausgleichender Gerechtigkeit bilden sie ein Gegengewicht zu einer antizipativen Zukunft, die durch eine Reaktion auf vergangene Kausalitäts- und Schuldverhältnisse determiniert ist.

Um eine zeittheoretische Grundlage hierfür zu legen, folgt zunächst eine kurze Darstellung des phänomenologischen Zeitbegriffs nach Edmund Husserl. Dieser durch die subjektive Wahrnehmung konstituierte Zeitbegriff wird anschließend, aufbauend auf einer Kritik am ökonomischen Verständnis der Zeit nach Hans Blumenberg, auf das Problem einer sich in stetiger Beschleunigung kristallisierenden Antizipation der Zukunft zugespitzt, die angesichts der begrenzten Lebenszeit des Subjekts einen Kompensationsmechanismus für die Unmöglichkeit darstellt, die sich am Antizipationshorizont des subjektiven Bewusstseins abzeichnenden Möglichkeiten in aktuelle Wunscherfüllungen umzusetzen. Dieser durch Be- schleunigung und durch das Bestreben nach Berechnung der Zukunft gekennzeichnete Prozess kann als „Pathologie der Zeit“ bezeichnet werden.
Die zeittheoretischen Arbeiten Husserls und Blumenbergs werden anschließend durch eine Bezugnahme auf die gesellschaftskritischen Analysen des Geographen David Harvey erweitert, der die Probleme der Zeitkompression und Beschleunigung im Rahmen der Globalisierung beschreibt. Vor dem Hintergrund der Arbeit Harveys wird deutlich, dass angesichts zunehmender räumlicher und zeitlicher Vernetzung die Bedeutung ethischer Entscheidungen auf das sie tragende Element der irreduziblen Ungewissheit und der Unberechenbarkeit der Zukunft fokussiert werden muss. Ein solcher ethischer Ansatz wird in der Sozialphänomenologie insbesondere durch Emmanuel Levinas vertreten, der die konsti- tutive Kraft der Ungewissheit für ethische Entscheidungen im Rahmen seiner Arbeiten zur ethischen Bedeutung der Alterität ausweist. Demnach liegt die Herausforderung der Ethik im Umgang mit dem durch irreduzible Fremdheit charakterisierten Anderen, der die Ungewissheit in jeglicher Entscheidungssituation, die in eine Interaktion mit anderen Subjekten eingebunden ist, bedingt. Allerdings lässt Levinas weitgehend offen, wie eine ethische Entscheidung getroffen werden soll, die gleichzeitig dem sogenannten Anspruch des fremden und stets singulären Anderen Rechnung tragen muss, aber auch den allgemeinen Ansprüchen einer normativen gesellschaftlichen und institutionellen Bezugsgröße, die er durch den Terminus des „Dritten“ bezeichnet.
Im Ausgang von, aber auch unter gleichzeitiger Abgrenzung zu diesen sozialphänomenologischen Arbeiten wird als abschließender Ausblick kurz auf den Stellenwert von Heuristiken für ethische Entscheidungen unter Ungewissheit (Gigerenzer 2010) Bezug genommen. Unauflösbar, wie die Paradoxie der ethischen Entscheidung angesichts irreduzibler Ungewissheit ist, bildet sie den Grund für ethisches Zusammenleben. Sie eröffnet die Möglichkeit der Wiederaufnahme und Weiterführung ethischer Beziehungen jenseits einer Ökonomie der Schuld und verhindert, dass dieses Ziel der Ethik zu einer widersinnigen Fortführung ökonomischer Prinzipien des Schuldenausgleichs unter dem Deckmantel der normativen Moral gerinnt. Die Paradoxie ethischer Entscheidungen ange- sichts irreduzibler Ungewissheit öffnet die Kontinuität der Erwartung für das Neue. Sie erfordert jedoch stets auch eine Offenheit für und ein Leben mit dem „Drachen“ (Koehn 2009) nicht intendierter Handlungskonsequenzen.

No Freedom Without Forgiveness? The Problems of Beginning and Postponement

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