Verzeihen ohne Macht? Imagination am Rande der Souveränität
(Verena Rauen)
„Ce dont je rêve, ce que j᾽essaie de penser comme la »pureté« d᾽un pardon digne de ce nom, ce serait un pardon sans pouvoir: inconditionnel mais sans souveraineté. La tâche la plus difficile, à la fois nécessaire et apparemment impossible, ce serait donc de dissocier inconditionalité et souveraineté. Le fera-t-on un jour? C᾽est pas demain la veille, comme on dit. Mais puisque l᾽hypothèse de cette tâche imprésentable s᾽annonce, fût-ce comme un songe pour la pensée, cette folie n᾽est peut-être pas si folle…“1
Ein Verzeihen ohne Macht – dies bedeutete ein Verzeihen, das nicht durch Konditionen wie etwa die Bitte oder die Buße determiniert wäre. Ein solches Verzeihen eröffnete kein Machtgefälle zu Gunsten desjenigen, der Verzeihung gewährt. Es bedeutete ein Entkommen aus dem Regress von Schuld und Vergeltung sowie einen Verzicht auf das moralische Urteil gegenüber dem Anderen, das dem Verzeihen im Sinne eines individuellen moralischen Aktes zu Grunde liegt und den Regress der Vergeltung nicht beendet, sondern unnötig perpetuiert. Ein solches Verzeihen ohne Macht bezeichnet Jacques Derrida im Interview Le siècle et le pardon (s.o.) als einen „Traum für das Denken“ (songe pour la pensée) und macht dabei auf das Paradox aufmerksam, das dem Akt des Verzeihens zu Grunde liegt: Indem das Verzeihen, im Sinne einer individuellen Handlung, immer ein moralisches Urteil über die Schuld des Anderen voraussetzt, bewirkt es eine Weiterführung der Kausalität der Schuldvergeltung. Wird also Verzeihung im Zuge eines performativen Sprechaktes oder auch nur durch eine Geste gewährt oder erbeten, bewirkt es nicht vorrangig einen Bruch mit der Logik der Vergeltung, sondern Machtausübung und ökonomischen Ausgleich. Deshalb fordert Maurice Blanchot den Verzicht auf das Verzeihen:
„Ne pardonne pas. Le pardon accuse avant de pardonner ; accusant, affirmant la faute, il la rend irrémissible, il porte le coup jusqu᾽à la culpabilité ; ainsi, tout devient irréparable, don et pardon cessant d᾽être possibles.“2
Die von Maurice Blanchot angedeutete Schwierigkeit der aktiven „Ausübung“ des Verzeihens wird auch von anderen Denkern des 20. Jahrhunderts thematisiert. So verbindet etwa Simone Weil, ihrerseits durch die Gnosis beeinflusst, in „Schwerkraft und Gnade“3 das Verzeihen mit dem ökonomisch berechenbaren „Gewicht“ menschlicher Handlungen, insofern diese das Gegengewicht des gerechten Ausgleichs erfordern, während die von der Verzeihung zu unterscheidende Gnade dieser Schwerkraft von Handlungen ausdrücklich entgegengesetzt ist. Auch Klaus-Michael Kodalle beschreibt eine Dimension des Verzeihens jenseits moralischer Handlungen.4 Die von ihm mit Bezug auf Hegel und Joseph Butler als „Geist der Verzeihung“ beschriebene Grundhaltung des Verzeihens wirkt sich entlastend auf zwischenmenschliche Beziehungen aus und bildet, gerade indem sie vor einer Überforderung des Individuums durch die Moral schützt, die „geheime Mitte der Ethik“.
Noch deutlicher als die oben genannten Denker zielt Derrida auf die Entbindung des Verzeihens von der souveränen Handlung, wenn er es als „Traum für das Denken“ beschreibt. Die von Jankélévitch eingeführte und von Derrida in seinen späteren Arbeiten aufgenommene Forderung nach einer „hyperbolischen Ethik“, auf die sich unter anderem Marc Crépon im hier vorliegenden Aufsatzband bezieht, bezeichnet folglich nicht ausschließlich die Entbindung des Verzeihens von seinen traditionellen Bedingungen im Rahmen der Dekonstruktion. Vielmehr werden durch den Begriff der hyperbolischen Ethik die Beschaffenheit des Verzeihens als einer individuellen Handlung sowie die adäquate Artikulationsmöglichkeit des Verzeihens durch die Sprache in Frage gestellt. Indem Derrida ein Verzeihen ohne Souveränität als „Traum für das Denken“ beschreibt, unterscheidet er es vom Bereich menschlicher Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten. Er bezieht es auf eine Struktur der Imagination, die jenseits der kontinuierlichen Antizipation dieser oder jener Ideale (wie sie beispielsweise durch Hermann Cohen gefordert wird 5) auf eine Ethik jenseits der Machtausübung abzielt.6 Kann das Verzeihen also durch die imaginative Struktur des Traums erfasst werden? Ein Ansatz, um diese Frage zu beantworten, findet sich in der phänomenologischen Kritik an der Psychoanalyse nach Ludwig Binswanger und Medard Boss.7 Es war jedoch insbesondere Michel Foucault in seiner Einleitung zu Binswangers Essay Traum und Existenz, der auf die ethische Dimension des Traums hingewiesen hat, indem er ihn als Ursprung der Imagination und höchste Figuration der Gnade erfasst.
1. Jacques Derrida, Le Siècle et le Pardon, in: ders., Foi et savoir, Paris 2001, S. 133. Deutsch: Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, in: Lettre International Nr. 48 (2000), S. 18.
2. Maurice Blanchot, L᾽Ecriture du Désastre, Paris 1980, S. 89.
3. Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1989. Orig.: La pesanteur et la grâce, Paris 1947.
4. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, München 2013, S. 9.
5. Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1966.
6. Vgl., Verena Rauen, Die Zeitlichkeit des Verzeihens. Zur Ethik der Urteilsenthaltung, München 2014.
7. Ludwig Binswanger, Traum und Existenz, eingel. v. Michel Foucault, übers. u. m. Nachw. v. Walter Seidler, Bern, Berlin 1992.